(von Wilhelm Johnsen 1950)
In jede Kirche gehört als vornehmstes und strengstes Glaubenszeichen das Bildwerk des Gekreuzigten: der Crucifixus. Die mittelalterliche Kunst ordnete ihm Maria und Johannes als Leidtragende hinzu, die Mutter zur Rechten des Sohnes, und schuf so die versöhnliche und stimmungshafte Kreuzgruppe. Sie erscheint bedeutungsvoll im "Triumphbogen", der das Langhaus der Gemeinde abscheidet vom Chor, in welcher die Messe der alten Kirche das Opfer der Erlösung wiederholt. In großen Kirchen ward das "Triumphkreuz" wohl an einer Kette im Scheitel des Chorbogens aufgehängt, wie man es zu St. Katharinen in Lübeck sehen kann, wo der Umriß der mächtigen Gruppe (von 1489) noch heute den Raum der stillgelegten alten Klosterkirche beherrscht. Das Übliche aber war, namentlich in kleineren Kirchen, daß man die Gruppe auf einen durchlaufenden Chorbalken stellte, der gleich dem Kreuzesholze mannigfaltig und bedeutungsreich ausgeziert war. Auch dafür bietet Lübeck ein besonders eindrucksvolles Beispiel, das diesmal vor der Vierung angebrachte Triumphkreuz der Notkewerkstatt im Dom von 1477, das die Verwüstung der Bombennacht überstanden hat. In Schleswig-Holstein hat nur die Kirche in Kating noch das vollständige alte Gesamt von Chorbalken und Kreuzgruppe bewahrt (um 1520 anzusetzen). Zu Warnitz in Nordschleswig findet sich statt des Balkens ein spätgotischer Eselsrücken, der von einem Kreuz gleicher Zeit mit einem älteren Kruzifix bekrönt ist, und in Mölln gibt es von einer 1503/04 gearbeiteten Kreuzgruppe noch den Balken und den Kruzifix. Im übrigen mögen aus Schleswig-Holstein (einschl. Lauenburgs und des Ratzeburger Doms) noch die Figuren selber von etwa 80 Kreuzgruppen erhalten geblieben sein (manche im Landesmuseum zu Schleswig); dazu kommen noch weit über doppelt so viele einzelne Kruzifixe; das meiste gehört dem späten Mittelalter an. In der Folgezeit ist der Bildgedanke der Kreuzgruppe auf dem Chorbalken nur vereinzelt wieder aufgenommen worden. Besonders schön, von echter Empfindung beseelt, ist das 1697 gestiftete Denkmal in Hemme, ein merkwürdiges Zeugnis für barockes Wiederaufleben gotischer Inhalte auch im Norden.
Unter den Kruzifixen des späten Mittelalters ist der in Eddelak der schönste und höchstwertige, kunstgeschichtlich auf den ersten Blick auch der rätselhafteste. Seine eigene Geschichte ist beispielhaft für das allzuhäufige Schicksal alter kirchlicher Kunst überhaupt.
Im Jahre 1740 errichtete der tüchtige Zimmermeister Johann Georg Schott aus Wesselburen nach dem Vorgang von Wesselburen und Marne auch in Eddelak eine von Grund auf neue Kirche, und der ebenfalls in Wesselburen ansässige weniger tüchtige Tischler Albert Hinrich Burmeister gab der Kirche eine neue Einrichtung, vor allem einen Kanzelaltar, wie er damals modisch wurde. Zu Anfang Dezember 1749 veranstaltete man von dem in den alten Turm verbrachten Gerümpel der abgebrochenen Kirche einen öffentlichen Verkauf. Für wenige Mark und Schilling erstanden damals zwei Tischler des Ortes die alte Kanzel und einen mittelalterlichen Flügelaltar mit drei "hölzernen Bildern" im Schrein und je acht "Bildern" (vermutlich Aposteln und Heiligen, eine Figur fehlte bereits) in den "Türen". Die großen Schreinfiguren werden. Maria und zwei flankierende Heilige dargestellt haben, denn die Eddelaker Kirche war der Gottesmutter Maria geweiht. So kamen die Madonna und ihre Begleiter auf sechs Schilling das Stück. Von einem Gekreuzigten ist damals wie weithin später nicht die Rede. Daß man papistische Heilige verkaufte, war nicht schlimm; bei einem hölzernen Herrgott ging das wohl nicht an. Der Kruzifix, vermutlich Rest einer Kreuzgruppe, wird jedenfalls lange auf dem Kirchenboden gelegen haben und erst im späteren 19. Jh. wieder hervorgezogen worden sein. Darauf deutet, daß er neben der üblichen Ablaugung bis auf ganz geringe Reste des roten Bolusgrundes, einem neuen Tischlerkreuz aufgelegt und von fühl- und formloser Hand ergänzt worden ist (alle Zehen, die Finger bis auf den Daumen der linken Hand). Auf eine Rundfrage 1874 hieß es: Ein wertloses Kruzifix in Lebensgröße. Das Werk hing längere Zeit, kaum beachtet, an der Nordwand über der dortigen Bühne. Als kurz vor Kriegsausbruch im Rahmen einer geplanten Erneuerung des Kircheninneren die Seitenbühnen abgebrochen und die Wände entputzt wurden, setzte man den Kruzifix wie einen Tannenbaum auf einen Fuß und stellte ihn neben das Altargebäude, den Menschen greifbar. Immerhin konnte man ihn nun erst recht und genau betrachten, bis in die handwerklichen Einzelheiten hinein. Der Körper mißt etwa 2 m. Die gereckten sehnigen Arme sind angedübelt; die Finger waren natürlich, wie es auch der rechte Daumen erkennen läßt, gekrümmt. Von geringen Rissen, Absplitterungen und Ausflickungen abgesehen, ist der Körper unversehrt. Die einzelnen Zweige der tauartig geflochtenen Krone zeigen vorn Löcher für Dorneinsätze; eine vom Scheitel hinabführende Öffnung diente vermutlich der Befestigung eines Nimbus. Von allem übrigen vermögen die Abbildungen einen Eindruck zu vermitteln.
Aus dem Kruzifix in Eddelak spricht schon die Gesinnung des 16. Jhs., ein neuer Wille zur Klassik, der erhöhte Menschlichkeit auch im Bilde des Göttlichen gestaltet, die Spannung und das Pathos der reifen Dürerzeit um 1520. Man denkt an die herbe Leidenschaft in den Gekreuzigten des Veit Stoss, an die männliche Straffheit des Christuskörpers im Gemmingen-Grabmal Hans Backofens in Mainz, wo das Lendentuch eine ähnliche Schürzung zeigt, ohne daß mit solchen Einzelhinweisen eine unmittelbar schulmäßige Abhängigkeit des Meisters behauptet werden sollte. Gewiß ist er berührt von dem Kraftstrom der führenden oberdeutschen Kunst. Aber der Ausgriff süddeutschen Empfindens ist hier zu norddeutscher Gehaltenheit gebändigt, ohne Einbuße an eindrücklich geprägter Form. Das Werk steht in Schleswig-Holstein auch stilistisch allein. Der allzuoft genannte Brüggemann steht ganz fern.
Während des Krieges habe ich einen Tag einsamer Radfahrt zwischen Schwerin und Hagenow daran gewandt, um über die Kreuzgruppe in dem abgelegenen Dörfchen Kraak mit eigenen Augen urteilen zu können. In ihr sehe ich eine Arbeit der gleichen Werkstatt. Die in Kraak erhaltenen Nebenfiguren klingen in der Tat, wie man beobachtet hat (Thorlacius-Ussing, Deckert), an die Nachfolge des Lübeckers Klaus Berg an; doch möchte ich darin nicht mehr als einen sehr allgemeinen Zeitklang erkennen, und mit dem in Kraak ebenfalls erhaltenen geringerwertigen Altar, der wirklich in die Klaus-Berg-Schule gehört, hat die Gruppe (wie von Deckert mit Recht betont) nichts zu tun. Der Kruzifix namentlich, im Vergleich zu Eddelak eine schwächere aber durchaus verwandte Werkstattleistung, hat kaum etwas "Bergisches" an sich. Hinter diesen Werken steht ein eigener und eigenwilliger, hervorragender Meister.
ddelak ist in Luftlinie rund 70 km von Hamburg entfernt, Kraak etwa 80 km. Hamburg ist jedoch nicht nur der geometrische Ort für Eddelak und Kraak, es ist auch mit guten Gründen als der kunstgeschichtliche Ort anzusehen. Was man in Hamburg heute noch an mittelalterlicher Plastik vor Augen sieht, ist gering an Zahl und zumeist auch an Wertigkeit, doch sehr ausgesprochen niederdeutscher Art. Was fehlt, ist aus der "Provinz" her zu ergänzen, und es leidet keinen Zweifel, daß der künstlerische Strahlungsbereich Hamburgs schon im Mittelalter die schleswig-holsteinische Westküste bis weit hinauf eingeschlossen hat.
Es gehört sich, daß der Kruzifix in Eddelak wieder einen würdigen Platz erhält. Vielleicht besinnt man sich darauf, ihn einzugliedern in ein Gedächtnismal für die Gefallenen.
Quelle
Schleswig-Holstein, Monatshefte für Heimat und Volkstum, Rendsburg, April 1950, S. 20f., Herausgeber: Schleswig-Holsteinischer Heimatbund